Unter der Leitung von Frau Ines Weichard treffen wir uns regelmäßig (14 tägig) dienstags in der Polyklinik am Südpark Erfurt. Gemeinsam singen hier Menschen mit einer Sprachbehinderung. Wir sind alle froh, dass es diesen Chor gibt. Er hat aber auch einen wissenschaftlichen Hintergrund, denn nicht nur die Gemeinschaft ist wichtig.
Das Gehirn ist das wichtigste Organ des Menschen. Es ist nicht nur unersetzlich als Steuerzentrum für den menschlichen Körper, sondern auch Träger der menschlichen Persönlichkeit.
Unser Großhirn besteht aus einer linken und einer rechten Gehirnhälfte, die miteinander verbunden sind und eng zusammenarbeiten. Jede Hälfte ist für ganz bestimmte Aufgabenbereiche zuständig. Laute, Wörter und Sätze werden in der linken Hirnhälfte gesteuert, während die rechte Hälfte verantwortlich für andere sprachliche Aspekte ist, z.B. die Sprachmelodie. Menschen mit Schädigungen in der linken Hirnhälfte sind von Aphasie betroffen.
Wie man durch Musik wieder sprechen lernt
Ein Schlaganfall ist die dritthäufigste Todesursache in Deutschland. Von den Überlebenden leidet etwa ein Fünftel an schweren Sprachstörungen, bis hin zum völligen Verlust der Sprache. Diese Patienten leiden unter der sogenannten Aphasie. Bei ihnen sind Sprachregionen auf der linken Seite des Gehirns zerstört, unter anderem die sogenannte Broca-Region. Im Fall einer schweren Broca-Aphasie können Patienten Sprache zwar verstehen, sind aber nicht mehr in der Lage, selbst Worte zu artikulieren. Oft können sie nicht mal mehr ihren eigenen Namen sagen – eine Katastrophe für Betroffene und Angehörige. Für diese schweren Aphasie-Fälle gab es bisher keine wirksame Therapie. Doch das könnte sich jetzt ändern – durch Musik.
Die Hirnregion, die Sprache verarbeitet, überlappt sich teilweise mit der Region, in der Musik verarbeitet wird. Beide liegen direkt hinter der Stirn. Sprache und Musik haben gemeinsame Wurzeln und sich die ersten Menschen in einer Mischung aus Sprache und Musik ausgetauscht haben. Die Gemeinsamkeiten sind bis heute geblieben: Sowohl Sprache als auch Musik sind aus einzelnen Elementen aufgebaut (Laute bzw. Töne), die in einem großen Ganzen aufgehen (Sätze bzw. Melodien), dessen Sinn das Gehirn erst entschlüsseln muss.
Musik überträgt Emotionen: Erregung, Angst, Freude, Interesse, Bedrückung, Entschlossenheit können sich beim Musikhörer einstellen.
Mit Sprachzentren ( u.a.: Broca-Areal, Wernicke-Zentrum) werden die Areale im Gehirn bezeichnet, denen eine besondere Funktion bei der Sprachverarbeitung und -produktion zukommt.
Wie Musik auf Menschen wirkt
Musik verändert den Herzschlag, den Blutdruck, die Atemfrequenz und die Muskelspannung des Menschen. Und sie beeinflusst den Hormonhaushalt. Die Klänge wirken vor allem auf Nebenniere und Hypophyse: Je nach Musikart werden verschiedene Hormone abgegeben – Adrenalin bei schneller und aggressiver Musik, Noradrenalin bei sanften und ruhigen Klängen. Letztere können so zum Beispiel die Ausschüttung von Stresshormonen verringern und die Konzentration von schmerzkontrollierenden Betaendorphinen im Körper erhöhen.
Wie das Gehirn Musik verarbeitet
Die Musik stellt für das Gehirn eine große Herausforderung dar, könnte auch einen Trainingseffekt haben. Das Gehirn muss etwa Tonhöhen und Melodien erkennen und sie miteinander vergleichen. Außerdem muss es die zeitliche Abfolge der Töne erfassen. Daraus ergeben sich nämlich Takte und Rhythmen. Die Aktivitäten beim Musizieren, aber auch die beim Musikhören, verändern das Gehirn bleibend. Alle Neuverschaltungen, die zwischen den Nervenzellen im Gehirn durch Musik entstehen, bleiben dem Menschen auch erhalten.
Durch Singen zum Sprechen
Der Begriff Aphasie meint eine zentrale, durch eine Verletzung des Sprachzentrums im Gehirn verursachte Störung der Sprache und umfasst immer die 4 Sprachmodalitäten Sprechen, Verstehen, Lesen und Schreiben. Je nach Aphasietyp sind diese Modalitäten unterschiedlich von der Störung betroffen sein. Schwere Aphasien gehen immer mit eine massiven Beeinträchtigung des Kommunikationsvermögens einher und sind mit meistens erheblichen psychischen Belastungen verbunden. Aphasie-Patienten machten können zwar oft kein einziges Wort mehr sprechen, sind aber in der Lage, Liedtexte zu singen.
Offenbar werden solche Texte nicht in der linken Hirnhälfte verarbeitet, wie die normale Sprache, sondern rechts, da wo auch Musik überwiegend verarbeitet wird. Auch auf der rechten Seite des Gehirns gibt es also anscheinend Areale, die Sprache verarbeiten können. Durch Musik, so die Theorie der Wissenschaftler, soll ein solches Ersatz-Sprach-Netzwerk zum Einsatz kommen. Es soll die Funktionen der zerstörten Sprachzentren auf der linken Seite übernehmen.
Aphasie & Schlaganfall Chor Erfurt
Aus unserer SHG Aphasie & Schlaganfall heraus ist ein Chor entstanden.
Seit 2013 haben wir mit Frau Weichard eine professionelle Chorleiterin (Dipl. Dirigentin, Logopädin und Leiterin des Frauenchor Erfurt). Sie geht auf die Problematik jedes Einzelnen ein: Fehlt das Verstehen des Textes, ist das Tempo zu schnell, kann ich Melodie und Text verbinden …
Unterstützt von Herrn Roloff trifft sich die Gruppe regelmäßig (14 tägig) jeweils am Dienstag im SCHZE Polyklinik Erfurt. Jetzt in der Corona-Zeit haben wir ein Hygienekonzept erarbeitet und der Chor ist in zwei Gruppen geteilt. Das bedeutet für Frau Weichard und Herrn Roloff die doppelte Arbeit – jede Woche eine Gruppe!
Gemeinsam kann man bei Musik die Isolation der Sprachbehinderung verlassen, in der Gruppe neues Vertrauen aufbauen und sein Selbstbewusstsein stärken.
Die Honorarkosten müssen bestritten werden. Die weitere Anschaffung von behindertengerechten Texten (Großformat), ist wichtig. Mit Flyern, Handzettel und Plakaten wird auf den Chor aufmerksam gemacht.
Neue Mitglieder und Sänger sind jederzeit willkommen. Viele Jahre Gemeinsamkeit mit Musik machen stolz und motivieren zu noch mehr Engagement.
Regelmäßig werden gemeinsam neue Aufgaben besprochen und die notwendigen Teilschritte geplant (konzeptionelle Orientierung). Feedbackrunden am Ende jedes Treffens sind uns wichtig. Sie kosten Zeit, aufgrund unserer Sprachstörung, aber jeder kommt zu Wort.
„Musik ist die schönste und zugleich die einzige Sprache, die überall auf dieser Welt verstanden wird.“
– Johann Wolfgang von Goethe
Liebe Freunde, jetzt möchte ich Euch gerne davon berichten, was uns alle immer wieder motiviert und begleitet und was die Faszination Musik für uns Betroffene bedeutet.
Musik! Kaum jemand kommt ohne sie aus. Sie macht traurig, macht froh, regt an und beruhigt. Musik ist eine überaus emotionale Sache.
Wir spüren, dass sich die Musik auf den ganzen Körper auswirkt. Sie dringt durch das Ohr in unser Gehirn und setzt dort Reaktionen in Gang: vom Pulsschlag bis hin zum Kribbeln in der Magengegend, zu Tränen und Freude. Beim Musikhören und auch beim Musikmachen wird das ganze Gehirn gefordert. Musik macht uns schlauer und fördert unsere Intelligenz.
Wir Menschen mit Sprachbehinderung, die nicht mit Worten sprechen können, können uns mit Hilfe von Musik ausdrücken und auf einer emotionalen Ebene kommunizieren. Dies hilft uns, uns aus unserer inneren Isolation zu befreien, die Umwelt zu entdecken. Wir erleben einen lebendigen Kontakt mit uns und anderen Menschen. So wird die Musik zum Kommunikationsmedium. Musik ist das beste psychotherapeutische Verfahren der Welt.
Da ist immer am Dienstag das Gefühl der Verbundenheit da. Musik ist wie ein Band das uns ganz fest hält und Sicherheit gibt. Die Gemeinschaft ist plötzlich so nah und wir alle spüren immer wieder Freude und Dankbarkeit. Wir haben alle im Alltag durch unsere Sprachbehinderung viele negative Erlebnisse erfahren müssen, die können wir leider nie vergessen. Sie haben bei vielen von uns tiefe Wunden hinterlassen. Aber hier – mit der Musik und in der Gemeinschaft mit den anderen – erfahren wir Wertschätzung und Freundschaft. Danke für jede Minute!
Es war für uns keine Frage, dass sich alle ausnahmslos impfen lassen und alle auf das Einhalten der Hygieneregeln achten. Wir brauchen das Miteinander und die Musik. Mit oder ohne Maske: Musik macht wahnsinnig viel Spaß und gibt uns ein großes Stück Lebensqualität zurück.
Eure Monika Habermann